Die nächste Ausgabe erscheint am 01.04.2024.

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Das Magazin der BKK WIRTSCHAFT & FINANZEN

„Wer bin ich denn, wenn die Essstörung weg ist?“
Bauchgefühle

JanaCrämer

Sie war jahrelang das Mädchen aus der 1. Reihe: Jana Crämer ist immer zu Konzerten gefahren, weil sie dort in die Musik eintauchen konnte. Ihre Jugend war nicht einfach, denn ihr Vater war schwerer Alkoholiker. Dadurch war zu Hause immer Stress und es blieb ihr das Gefühl, nichts unter Kontrolle zu haben, auch nicht ihr Gewicht. Sie machte Diäten, bis sich alles nur noch um essen, nicht essen, um Kalorien und Inhaltsstoffe drehte, und manövrierte sich nach und nach in eine starke Ess­störung. Am Ende wog Jana 180 Kilo. Ein Gespräch über Gefühle mit Jana Crämer, Autorin, Bloggerin und Gesicht der BKK Präventionsinitiative „bauchgefühl“.

Jana, was ist während Deiner Essstörung mit Deinen Gefühlen passiert?

Ich habe immer ein bisschen mehr gewogen und meine Diäten haben zu Komplimenten geführt. Ich hatte das Gefühl, ich habe etwas im Griff. Ich entscheide, ob ich esse oder nicht, und habe dann durch diese Disziplin, diesen Zwang, diese ständige Kontrolle, meine Gefühle komplett ausgeblendet. Bei einem Fressanfall, den ich zwischendurch immer hatte, war das so, als würde ich eine innere Leere mit dem Essen füllen. Dann war es so, als ob die Gefühle so aufquellen und nach oben wollen, und das hat mich dann komplett überfordert. Ich habe versucht, das zu ignorieren und mich so ein bisschen abzuspalten: Ich bin der Körper, das sind die Gefühle. Irgendwann habe ich gemerkt, Gefühle sind nicht kontrollierbar – ich habe mich lange davor versperrt. Inzwischen habe ich gelernt, dass Gefühle – auch die schlechten – gut sind und dass man ihnen mit Neugierde begegnen darf. Deswegen versuche ich jedem Gefühl, das ich so habe, sei es Unsicherheit oder sei es ein Gefühl von Verzweiflung oder Überforderung, genau nachzuspüren.

Jetzt hast Du ja einen langen Weg hinter Dir von den 180 Kilo und wieder zurück. Wie ging es Dir damit?

Ich hatte den Plan, wenn ich abnehme, werde ich auch gleichzeitig glücklich. Ich dachte, wenn ich irgendwann diese Wunschzahl auf der Waage habe, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt. Aber ich war der unglücklichste Mensch der Welt, als diese Zahl dastand, weil ich nur versucht hatte, diese Essstörung „in den Griff“ zu bekommen. Allein diese Formulierung ist ja schon so falsch.

Dann habe ich mir gesagt, ich muss mich erst einmal selbst kennenlernen. Wer bin ich denn, wenn die Essstörung weg ist? Vorher war es ja so, dass sich alle auf die Essstörung gestürzt haben, alle haben mich dazu befragt, das war das Hauptthema und ich dachte, wenn die weg ist, was ist dann noch von mir da? Ich wollte so gar nicht gesund werden, ich dachte, damit habe ich mich jetzt so arrangiert. Das kenne ich, das ist so vertraut, das ist eine gefährliche Geborgenheit, das ist toxisch, aber es ist okay, damit kann ich umgehen. Und dann war ich mutig und habe gedacht, okay, jetzt gucken wir mal, was brauche ich wirklich, was kommt von den anderen?

Wie sah Dein Weg aus?

Ich wollte weg von dieser Frage: „Hast du deine Essstörung jetzt im Griff?“ Ich will ja nicht im Krieg sein, ich will mit meinem Körper ganz im Frieden leben. Ich habe ihm so viele Jahre, nein, nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele und mir als Mensch so unrecht getan und ich habe einiges gutzumachen. Und da dachte ich, komm, die Zeit, die kannst Du doch wirklich nutzen, um mit Dir wirklich Freundschaft zu schließen. Ein bisschen ist es manchmal ok, sich selbst auszutricksen. Und besonders die Tricks, bei denen ich früher die Augen verdreht habe, helfen tatsächlich. Wenn man zum Beispiel wirklich richtig doll lächelt, dann drückt ein Muskel auf einen Nerv, und das setzt Glückshormone frei. Es gibt so viele Dinge, die tatsächlich gut sind und die helfen, sich auf seine eigenen Stärken zu berufen.

Angst ist ja auch ein starkes Gefühl. Wie gehst Du damit um?

Zum Beispiel hatte ich unglaublich Angst vor Krankenkassen. Ich dachte, die wollen mir was Böses, ich habe die nie als Verbündete gesehen. Dann war ich so weit, dass ich mich hingesetzt habe und da habe ich eine Mail an meine Krankenkasse geschickt und gesagt, mir geht es nicht gut, ich weiß nicht weiter – vielleicht könnt ihr mir helfen? Ich habe beschrieben, wie es mir geht und ich habe eine Antwort bekommen, und das war toll. „Ich bin sehr stolz auf Sie, dass Sie sich mir anvertraut haben“, stand da. Da dachte ich schon, oh, wie schön, dann habe ich mich nicht mehr so alleine gefühlt. In die Handlung gehen, Dinge anstoßen, das ist das Wichtige.

Wie hast Du Dich dann gefühlt, wie ging es weiter?

Je mehr ich mich mit mir und meinen Gefühlen auseinandergesetzt habe, desto mehr bemerkte ich sie. Wenn sie so ein bisschen da sind, müssen sie nicht mehr an die Tür poltern. Jetzt merke ich schon, wenn ein leises Rascheln vor der Tür ist. Ich höre nun genau hin und begegne jetzt auch den schlechten Gefühlen mit einer Neugier. Sie sind spannende Wegweiser und sie gehören so sehr zu uns. Wenn ich mit Jugendlichen ins Gespräch komme, ist ein Hauptwunsch von ihnen, mal wieder etwas fühlen zu wollen. Aber sie haben auch Angst, nie wieder aufzuhören zu weinen, die haben solche Angst vor ihren Gefühlen. Gefühlsmanagement sollte man regelmäßig in der Schule lernen, denn Gefühle helfen, sie sind Teil von Dir und deshalb sind sie wertvoll und wichtig.

Hast Du denn im Nachhinein eine Ahnung, wann Du aus Deinen Gefühlen herausgerutscht bist?

Wenn mein Papa nüchtern war, war er der empathischste liebe­vollste Mensch, er konnte unbändige Freude ausstrahlen und ebenso oft Trauer empfinden. Mein Papa war halt durch und durch Gefühl und ich glaube, dass mir das auch ein bisschen Angst gemacht hat, da ich nie so werden wollte wie mein Papa. Ich wollte nie so süchtig werden. Heute bin ich sehr froh, dass ich, was die Gefühle angeht, total nach meinem Papa komme. Also inzwischen erlebe ich und lebe Gefühle.

Auf jeden Fall bist Du jetzt viel glücklicher als ohne Gefühle?

Total, alles andere war wirklich nicht lebenswert. Es war ein Existieren, es war ein Funktionieren, es war ja ein Reagieren auf das, was da so kam. Ich weiß nun, ich kann auf mich vertrauen, ich kann die Dinge richtig einschätzen und ich habe auch keine Angst davor, einen Fehler zu machen. Es ist ja immer ein Gefühl da, also irgendwas ist immer da.

Wieso heißt denn unsere Kampagne „bauchgefühl“?

Weil das Bauchgefühl so wichtig ist und dort eine ganze Menge stattfindet. Und wenn man sich wirklich mal einfach so hinsetzt, die Atmung spürt, da lernt man, wie es einem wirklich geht. Wenn man mit dem Bauchgefühl in gutem Kontakt steht, kann man sich darauf verlassen. Das Wichtige ist, dass man nicht so hart zu sich selbst ist, dass man sich nicht überfordert und enttäuscht ist und dass man nicht jeden kleinen Rückfall als dramatisch ansieht. Sondern es ist ein kleiner Zwischenschritt auf der Reise. Ich finde es ganz wichtig, dass man keine Angst vor Gefühlen hat und dass man sich auch nicht für seine Gefühle schämt. Ich habe früher immer versucht, meine Freudentränen wegzuwischen, wenn ich über etwas sehr glücklich war. Tränen sind ein ganz tolles Kompliment und eine ganz enge Verbindung zu sich selbst und deswegen sollte man sich nie für seine Tränen schämen.

Die BKK Präventionsinitiative „bauchgefühl“ …

… ist eine Initiative der BKK Landesverbände Bayern, NORDWEST und Süd sowie des BKK Dachverbands. Zielgruppe der Schulaktionen sind Kinder und Jugendliche von der 6. Klasse bis zur Berufsschule.

Go online: bkk-bauchgefuehl.de

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