Organspende: Neuer Anlauf für eine Widerspruchslösung
Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hat Mitte Juni für eine Bundesratsinitiative zur Einführung der Widerspruchslösung bei der Organspende die erforderliche Mehrheit im Bundesrat erhalten. Der Bundestag muss sich nun mit dem Gesetzentwurf befassen. Tritt der Entwurf tatsächlich in Kraft, würden im Anschluss alle Menschen in Deutschland grundsätzlich als Organspender gelten, wenn sie dem nicht widersprechen. Hintergrund ist die massive Lücke zwischen gespendeten Organen und Personen, die ein Spenderorgan benötigen – obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung der Organspende gegenüber positiv eingestellt ist.
„Deutschlandweit warteten zum Stichtag 31. Dezember 2023 fast 8.400 Patientinnen und Patienten auf ein Spenderorgan. Zugleich wurden im Jahr 2023 in Deutschland nur knapp 2.900 Organe von 965 Personen gespendet. Das bildet sich auch in den Zahlen für Nordrhein-Westfalen ab: Hier warteten zum gleichen Stichtag mehr als 1.800 Menschen auf ein Spenderorgan, während im gesamten Jahr 2023 lediglich 965 Organe von 166 Personen gespendet wurden. Die Zahlen bewegen sich seit Jahren auf einem vergleichbaren Niveau und das ist deutlich zu wenig. Oder anders und drastisch ausgedrückt: Das ist eine massive Lücke, die für viele Menschen am Ende womöglich den Tod bedeuten kann“, sagte Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann Anfang Juni im Rahmen der Vorstellung seiner Initiative.
„Vor diesem Hintergrund bin ich schon lange zu der Überzeugung gelangt, dass wir hier mit der Entscheidungslösung nicht weiterkommen. Daher setze ich mich so massiv für die Widerspruchslösung ein. Klar ist: Niemand darf zu einer Organspende gezwungen werden. Ich bin aber schon der Meinung, dass wir die Menschen dazu verpflichten können, eine Entscheidung dafür oder dagegen zu treffen. Zuletzt hat der Bundestag im Jahr 2020 zum Vorgehen bei der Organspende abgestimmt – mit einer Mehrheit für die Entscheidungs- und gegen die Widerspruchslösung. Mit der anderen Zusammensetzung des Bundestags durch die Wahl 2021 birgt eine erneute Abstimmung die Chance, die Widerspruchslösung endlich einzuführen – und mehr Leben zu retten“, so Laumann weiter.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde die Widerspruchslösung dazu beitragen, die Zahl der Organspenden in Deutschland zu steigern und Wartezeiten auf ein Organ deutlich zu verkürzen, denn laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung steht eine überwältigende Mehrheit von mehr als 80 Prozent der Menschen in Deutschland der Organspende positiv gegenüber.
So eine fraktionsübergreifende Initiative hatte 2020 bereits der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU gestartet. Für den Gruppenantrag zur Einführung der Widerspruchslösung stimmten damals 292 Abgeordnete, 379 waren jedoch dagegen.
„Wir sehen das in anderen europäischen Ländern, die die Widerspruchslösung bereits haben“, so Minister Laumann. „Die Einführung wird diejenigen, die keine Organe spenden wollen, dazu bewegen, dies auch zu dokumentieren. Denjenigen, die Organe spenden wollen, wird die Dokumentation abgenommen, weil sie automatisch als Organspenderinnen und -spender gelten. Ich bin überzeugt, dass wir in Deutschland keinen Mangel an Menschen haben, die aus Solidarität oder Nächstenliebe nach ihrem Tod Organe spenden wollen. Wir haben aber ein Dokumentationsproblem. Wenn Menschen ihre Einstellung nicht hinterlegt haben, müssen die Angehörigen entscheiden. In der Regel wird dann die Organspende aus Angst davor abgelehnt, möglicherweise gegen den Willen des Verstorbenen zu handeln“, so Minister Laumann.
Kritiker des Vorschlags wie Außenministerin Annalena Baerbock geben zu bedenken, dass ein Stillschweigen zur Organspende nicht als Zustimmung gewertet werden dürfe.
Das steht im Gesetzentwurf:
- Jeder Mensch ist grundsätzlich Organ- oder Gewebespender oder -spenderin, es sei denn, es liegt ein erklärter Widerspruch vor.
- Ein Widerspruch kann im bereits bestehenden Organspende-Register, in einem Organspendeausweis, einer Patientenverfügung oder anderweitig schriftlich dokumentiert werden. Der Widerspruch kann auch mündlich gegenüber Angehörigen geäußert werden. Ein Widerspruch gegen eine Organspende muss nicht begründet werden.
- Wenn eine Möglichkeit zur Organspende besteht, fragen die auskunftsberechtigten Ärzte zunächst beim Organspende-Register an, ob ein Widerspruch vorliegt. Ist das nicht der Fall, holen sie bei den nächsten Angehörigen Informationen darüber ein, ob ein Widerspruch im Organspendeausweis, einer Patientenverfügung oder anderweitig schriftlich dokumentiert ist beziehungsweise mündlich geäußert wurde. Die Angehörigen sind verpflichtet, sich an den Willen der oder des Verstorbenen zu halten und dürfen keine abweichende Entscheidung treffen.
- Liegt bei Minderjährigen kein geäußerter Wille vor und ist ein solcher auch den nächsten Angehörigen nicht bekannt, steht diesen ein eigenes Entscheidungsrecht unter Beachtung des mutmaßlichen Willens der minderjährigen Person zu. Ein Arzt soll die nächsten Angehörigen über eine in Frage kommende Organ- oder Gewebeentnahme unterrichten.
- Bei Verstorbenen, die nicht in der Lage waren, die Tragweite einer Organspende zu erkennen und deshalb keinen Willen abgegeben haben, ist eine Organspende unzulässig. Ob dies der Fall ist, soll ein Arzt, der nicht an der Organspende beteiligt ist, durch Befragung der nächsten Angehörigen klären.
- Die Widerspruchslösung tritt zwei Jahre nach Veröffentlichung des Gesetzes in Kraft. Sechs Monate vor Einführung der Widerspruchslösung sollen alle über 14-Jährigen drei Mal hintereinander über die Bedeutung und die Rechtsfolgen eines erklärten wie eines nicht erklärten Widerspruchs informiert werden. Auch nach Einführung der Widerspruchslösung wird eine kontinuierliche Aufklärung der Bevölkerung sichergestellt, um zu gewährleisten, dass alle Menschen selbstbestimmt über eine mögliche Organ- oder Gewebespende entscheiden können.
Hintergrund
In Deutschland gilt bisher die sogenannte Entscheidungslösung: Organe und Gewebe dürfen nur dann nach dem Tod entnommen werden, wenn die verstorbene Person dem zu Lebzeiten zugestimmt hat. Liegt keine Entscheidung vor, werden die Angehörigen befragt.
Befürworter vermuten, dass die Zahl der tatsächlichen Organspenden insbesondere deshalb auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in Nachbarstaaten verharrt. Denn in vielen anderen europäischen Ländern gilt die Widerspruchslösung bereits. Etwa 8.496 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Die meisten von ihnen warten auf eine Spenderniere. 2022 gab es bundesweit 869 Organspenderinnen und Organspender. Das entspricht 10,3 Organspenderinnen und -spender je eine Million Einwohner.
In Europa führt Spanien regelmäßig die Statistiken zur Organspende an. 2022 kamen dort auf eine Million Einwohner 46,0 Organspenderinnen und Organspender. Seit 1989 gibt es dort eine nationale Transplantationsbehörde, die eine landesweite Warteliste koordiniert und im Kontakt mit den lokalen Entnahmekrankenhäusern steht. Außerdem dürfen in Spanien Organe auch dann entnommen werden, wenn der Herztod vor dem Hirntod eingetreten ist.