Viel zu tun: Pflege vor dem Kollaps

Seit dem Aus der Ampelkoalition liegen viele gesundheitspolitische Vorhaben auf Eis. Auch die Gespräche zur Bildung einer neuen Regierung stehen stark im Zeichen der Außen- und Sicherheitspolitik. Gesundheit und Pflege spielen bisher keine Rolle. Trotzdem muss die neue Bundesregierung schnell und entschlossen reagieren, um die Leistungsfähigkeit eines Systems wiederherzustellen, um das wir noch vor Kurzem weltweit beneidet wurden.
Auf den elf Seiten erklären Union und SPD in ihrem Sondierungspapier, worüber sie in den zwischenzeitlich laufenden Koalitionsverhandlungen diskutieren wollen. In lediglich drei sehr allgemeinen Sätzen ging es dabei um das Gesundheitssystem. Dabei ist die Liste der bereits bekannten gesundheitspolitischen Großbaustellen erneut angewachsen.
Alte Konzepte tragen nicht mehr
Inzwischen stehen 5,6 Millionen Pflegebedürftigen immer weniger Beitragszahler und immer weniger Pflegekräfte gegenüber, deren Bedarf schon in zehn Jahren um rund 90.000 höher sein wird, als dem Arbeitsmarkt dann zur Verfügung stehen werden. Um diese schwierige Gemengelage aufzulösen und wieder zum Guten zu wenden, braucht Deutschland eine tragfähige und zukunftsorientierte pflegepolitische Gesamtstrategie, die vor allem die Nächstenpflege stärkt. Dazu gehört ein rationaler Diskurs, der auslotet, was politisch machbar und auch finanzierbar ist.
Kosten für die Pflege steigen und steigen

Schon heute liegt der Eigenanteil in Pflegeheimen bei durchschnittlich 2.424 Euro, in der häuslichen Pflege müssen Betroffene im Schnitt 290 Euro monatlich aus eigener Tasche bezahlen. Zugleich ist die soziale Pflegeversicherung 30 Jahre nach ihrer Einführung praktisch pleite: Die jüngste Beitragssatzerhöhung um 0,2 Prozentpunkte zum 1. Januar 2025 wird innerhalb kürzester Zeit verpuffen.
Unmittelbare finanzielle Stabilisierung der sozialen Pflegeversicherung alternativlos
Die soziale Pflegeversicherung stößt an ihre Grenzen: Sie ist schon jetzt faktisch pleite. Die neuen politisch Verantwortlichen müssen sich dringend mit der Finanzierung beschäftigen und diese kurzfristig stabilisieren. Dazu ist es notwendig, die soziale Pflegeversicherung von versicherungsfremden Leistungen zu befreien und perspektivisch durch einen dauerhaften Steuerzuschuss zu stützen. Darüber hinaus ist ein Risikostrukturausgleich zwischen der privaten Pflegepflichtversicherung und der sozialen Pflegeversicherung zu installieren, da die Versicherten der sozialen Pflegeversicherung ein höheres Pflegerisiko als die Privatversicherten haben, aber z.B. die Ausbildungskosten mit bezahlen. Mittelfristig führt kein Weg an einer umfassenden Struktur- und Finanzreform vorbei, die auch das Zusammenspiel von sozialer Pflegeversicherung und gesetzlicher Krankenversicherung in einer alternden Gesellschaft berücksichtigt, um Fehlanreize und Systembrüche zu vermeiden.
Fachkräftemangel durch effizientere Personalverteilung begegnen
Die Pflegebranche ächzt unter dem Personalmangel. Nur wenige ambulante oder stationäre Pflegeanbietenden können ihre offenen Stellen noch besetzen. Zum Mangel an geschultem Pflegepersonal gesellt sich ein hohes Maß an Ineffizienz: Die falsche Verteilung von Pflegekräften im System ist ein strukturelles Problem, das den Fachkräftemangel erst richtig prekär und unkontrollierbar macht. All dies hat dramatische Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen vor Ort und damit auch auf die Qualität der Pflege.
Der Schlüssel sind attraktive Arbeitsbedingungen, die es ermöglichen, Personal zu halten, zurückzugewinnen oder die Arbeitszeiten auszuweiten. Es braucht daher mehr Verbindlichkeit. So muss eine Pflegeeinrichtung einen laufenden BGF-Implementierungsprozess vorweisen, um für die Versorgung zugelassen zu werden.

Pflegende Angehörige mit Lohn und Rente absichern
Seit langem ist bekannt, dass viele Angehörige, die hierzulande den größten Teil der Pflege leisten, regelmäßig an ihre Grenzen stoßen. Sie versorgen derzeit mehr als 84 Prozent aller Pflegebedürftigen in der eigenen Häuslichkeit und nehmen dafür oft jahrelang erhebliche körperliche, psychische und finanzielle Entbehrungen in Kauf. Mehr als Hälfte derjenigen, die einen Angehörigen zu Hause pflegen, können ihren eigenen Beruf nicht mehr in vollem Umfang ausüben oder müssen ihre Berufstätigkeit für ihren Pflegeeinsatz sogar ganz aufgeben.

Das sind Zustände, die so nicht bleiben dürfen. Pflegende Angehörige leisten mit ihrem Engagement einen entscheidenden Beitrag, der unsere gesamte Gesellschaft trägt und buchstäblich am Leben hält. Es ist daher höchste Zeit, ihren Einsatz und ihre Leistung zu würdigen und politische Maßnahmen zu ergreifen, die ihnen den Dienst am Nächsten erleichtern und die Pflegenden langfristig sozial absichern. So könnten die Einführung eines Pflegelohns unter bestimmten Voraussetzungen, eine volle rentenrechtliche Absicherung und die Schaffung eines flexiblen Pflegebudgets die derzeit desolate Situation in der häuslichen Pflege deutlich verbessern.