Bürokratie oder Schikane? Im Schwitzkasten von Markt und Gesetzgeber
Die Gesetzlichen Krankenkassen gehören zu den Kerninstitutionen des deutschen Systems der sozialen Sicherung. Ihre Funktion hat sich in den letzten Jahrzehnten aber deutlich verändert. Während wir Krankenkassen uns selbst auf dem Weg vom behördennahen „Payer“ zum dienstleistungsorientierten „Player“ sehen, ist der öffentliche Eindruck mittlerweile wieder zunehmend vom Gegenteil geprägt. Auf der Suche nach Ursachen – ein (mehr als subjektiver) Kommentar von Thorben Weichgrebe, Abteilungsleiter Marketing bei der BKK W&F.
Mit der Einführung des freien Krankenkassenwahlrechts begann Mitte der 90er Jahre eine neue Zeitrechnung: wurden Versicherte zuvor noch automatisch bestimmten Krankenkassen zugeordnet entbrennt seitdem ein harter Kampf um Versicherte und Marktanteile. Dieser führte in einer vorläufigen Spitze vor wenigen Jahren zu dem subjektiven Gefühl, dass es den Krankenkassen in Anbetracht eines ausufernden Verdrängungswettbewerbes um die besten Plätze auf den Trikots von Deutschlands Spitzensportlern offensichtlich viel zu gut gehen muss. Dabei galt oft das immer gleiche Motto: „Wir bieten die besten Leistung und sind die Servicestärksten“. Mancherorts setzte man kurzerhand auch noch die ökonomischen Prinzipien von Minimal- oder Maximalprinzip außer Kraft und setzte der Torte noch einen Schuss „Wir sind natürlich darüber hinaus auch die Günstigsten“ zu.
Diese (verdrehte) Welt hat sich nach der Pandemie, inmitten eines Krieges in Euro und dem in Deutschland in den kommenden Jahren besonders verheerenden demografischen Wandel in Kombination mit dem ein oder anderen damit einhergehenden „Fehlerteufel“ des Gesetzgebers erneut gewandelt: die Spezies „Krankenkasse“ wird mittlerweile – von ausdrücklich vorhandenen Ausnahmen abgesehen – wieder als deutlich bürokratischer, immer teurer und in Teilen auch mit der Digitalisierung zunehmend überfordert in einen Topf mit vielen Bundesbehörden geworfen. Die Gründe sind vielschichtig und ganz sicher auch in eigenen organisatorischen und technischen Defiziten zu verorten. Erschwerend kommen auch immer neue gesetzliche Änderungen und Anforderungen hinzu – kaum eine Branche ist in den letzten Jahren so massiv vom Gesetzgeber (und nicht durch den Markt) gezwungen worden, sich regelmäßig neu zu erfinden. Die Krankenkasse der Gegenwart gestalten daher schon jetzt nicht nur Versicherungsexperten, sie baut bereits wesentlich auf die Erfahrung von IT- und Change-Management erfahrenen Führungskräften. Nur schade, dass der Gesetzgeber dies unbeirrt mit „Disziplinierungen im Stundentakt“ honoriert.
Drei Beispiele:
- Bürokratieabbau bei Leistungserbringern beitragssatzrelevant
„Bürokratie dient vielfach wichtigen Zwecken, wie der Gewährleistung der Patientensicherheit, der Daseinsvorsorge, der koordinierten Patientensteuerung, der Sicherung der Qualität und Wissensvermittlung, der Transparenz und Nachvollziehbarkeit für die Beteiligten, aber auch der haftungsrechtlichen Absicherung der Leistungserbringer“, so geschrieben im Prolog eines aktuellen Eckpunktepapiers zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen des Bundesministeriums für Gesundheit von Ende September 2022. Gleichzeitig räumen die Verfasser ein „dass über die letzten Jahrzehnte Regelungen und Anforderungen entstanden sind, die zu einem Übermaß an Bürokratie geführt haben. Zu viel Bürokratie, beispielweise durch zu kleinteilige Dokumentationspflichten oder nicht erforderliche Doppelstrukturen, bindet ohne Notwendigkeit wichtige zeitliche und personelle Ressourcen…“ Ziel der Regierungsparteien sei daher auch auf Basis des Koalitionsvertrags ausdrücklich auch der Bürokratieabbau im Gesundheitswesen.
Die Sicht von uns Krankenkassen: der Gesetzgeber geht die Entbürokratisierung vor allem auf Leistungserbringerseite an und zieht die Kraft dafür wesentlich aus reduzierten Prüfmöglichkeiten für uns als Kostenträger, insbesondere in der Krankenhausabrechnung. Diese Rechnung wird nicht aufgehen und sich durch die weiteren aktuell geplanten Eingriffe rund um die Einführung eines zu 50% aus Mitteln der Krankenversicherung finanzierten Transformationsfonds für Krankenhäuser noch weiter – verfassungswidrig – zu Lasten der Versicherten ausweiten. Hier sind rechtlich stattdessen Land und Bund zu 100% in der Pflicht.
- Gesetzliche Anforderungen erdrücken versichertenfreundlichen Service
„Der GKV-Spitzenverband hat die Aufgabe, Richtlinien für die sichere Kommunikation der Krankenkassen mit ihren Versicherten zu erstellen. Konkret werden in der Richtlinie Maßnahmen zum Schutz von Sozialdaten der Versicherten vor unbefugter Kenntnisnahme festgelegt, die von den Krankenkassen beim Kontakt mit Versicherten zu beachten sind. Dabei sind die Festlegungen gemäß der gesetzlichen Vorgabe mit der BfDI und dem BSI abzustimmen und dem BMG zur Genehmigung vorzulegen“, so nachzulesen auf der Webseite des Spitzenverbandes aller gesetzlichen Krankenkassen.“
Herausforderung für uns Krankenkassen: auch wenn wir noch so serviceorientiert beraten möchten, ist bereits eine Auskunft per Mail oder Telefon mit Versichertenbezug ohne vorherige Authentifizierung nicht möglich, von harten Datenänderungen mal ganz abgesehen. Hier verlangt der Gesetzgeber – durchaus nachvollziehbar – eine Prüfung mit doppeltem Boden. Was in der Praxis sogar zum Medienbruch „auf eine Mailanfrage erhalten Versicherte Post“ führt. Das Verständnis der Versicherten hält sich dafür naturgemäß in Grenzen, schließlich sind doch die vermeintlich sensibleren Bankgeschäfte mit weniger bürokratischen Hürden ausgestattet. Und doch ist es rechtlich wie es ist: während eine aufgedeckte Sicherheitslücke bei der Authentifizierung von Versicherten durch ein Videoident-Verfahren ein umgehendes generelles Verbot nach sich zog, darf man auch heute noch weiterhin getrost seine Konten durch eben dieses Verfahren eröffnen.
Wer hier als Versicherter zumindest etwas eigeninitiativ unterwegs sein möchte, der benötigt ein Onlinekonto bei seiner Krankenkasse, welches er idealerweise nur mit einer vorab angelegten und mit einer noch weitreichenden Authentifizierung versehenen GesundheitsID – einsehen kann. Wobei: theoretisch könnte man nach Einschätzung der Aufsichtsbehörden eine reine Online-Geschäftsstelle auch durch ein niedrigeres Schutzniveau betreten – aber welcher Versicherte versteht dann noch, warum er die dort das eine darf und die andere aber nicht? Hier sorgen schon jetzt zusätzlich notwendige 2-Faktor-Authentifizierungen bei bestimmten Antragsschritten für Irritationen und hohen Beratungsbedarf.
- Keine Kulanz bei Leistungen und (rückständigen) Beiträgen
Ein weiteres großes Thema bei uns Krankenkassen ist das Thema Kulanz. In jeder Versichertenbefragung mit medialer Aufmerksamkeit findet sich auch dieser Begriff wieder. Dabei sind die Möglichkeiten eines „Entgegenkommens“ in der Gesetzlichen Krankenversicherung quasi nicht vorhanden. Sie beschränken sich auf Sachverhalte wie den einmaligen Erlass von Säumniszuschlägen und -gebühren bei zuvor immer pünktlicher Zahlung von Beiträgen. Die gesamte Klaviatur des Mahnwesens können und dürfen die Krankenkassen nicht verändern, auch wenn oder gerade weil eingezogene Beiträge nicht ihr, sondern dem Gesundheitsfonds zu Gute kommen. Wir Krankenkassen finanzieren uns stattdessen über alters-, geschlechts- und morbiditätsbezogene Zuweisungen.
Ein weiteres Thema ist die Vermutung, Krankenkassen offerieren ihre Mehrleistungen immer mit einem Haken: wie ist es aus Versichertensicht sonst zu erklären, dass eine Erstattung von Leistungen der medizinischen Vorsorge von „zusätzlichen Risikofaktoren“ abhängig gemacht wird? Die Antwort lautet: weil eine solche Mehrleistung zuvor in der kassenindividuellen Satzung verankert werden muss und eine Genehmigung der Aufsichtsbehörde ohne diesen Zusatz nicht möglich ist. Es handelt sich also nicht um eine böse Absicht, sondern eine Notwendigkeit.
Wobei: nicht alle Aufsichtsbehörden ticken gleich, so dass es durchaus zu unterschiedlichen Satzungsregelungen zum gleichen Thema bei Krankenkassen kommen kann – aber das ist ein ganz anderes Thema.