Geldverteilungsmaschine Risikostrukturausgleich
So finanziert sich die Gesetzliche Krankenversicherung
Wer kennt es nicht, das Versicherungsprinzip von Beitrag und Leistung. Auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung gilt bis heute: man zahlt einen Beitrag und erwirbt dafรผr einen Leistungsanspruch. Nicht mehr gรผltig ist jedoch die noch immer weit verbreitete Vermutung, dass der eigene Beitrag auch bei der eigenen Krankenkasse vereinnahmt wird. Denn sรคmtliche Beitrรคge, die Mitglieder und Arbeitgeber Monat fรผr Monat an die Krankenkassen รผberweisen, werden von diesen unmittelbar und 1:1 an den Gesundheitsfonds unter dem Dach des Bundesamts fรผr Soziale Sicherung (BAS) weitergeleitet. Das Ziel: eine mรถglichst gerechte Umverteilung, dessen Berechnungsbasis der sogenannte morbiditรคtsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) liefert.
Die Wirkungsweise und das Ineinandergreifen der vielen Stellschrauben des Morbi-RSA ist selbst ausgewiesenen Experten nicht vollumfรคnglich transparent. Zu groร sind die Abhรคngigkeiten von Faktoren, die man selbst nicht beeinflussen kann. โDabei geht es um nichts mehr als die elementare Finanzierung aller gesetzlichen Krankenkassen. Alleine im Jahr 2023 werden รผber den Gesundheitsfonds mehr als 273 Milliarden Euro fรผr die medizinische Versorgung der mehr als 74 Millionen gesetzlich Versicherten umverteiltโ, erlรคutert Hauptableitungsleiter Florian Liese. Eingefรผhrt wurde der RSA bereits 2009, er soll einen fairen Wettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen ermรถglichen, indem er Einkommen und Erkrankungen der Versicherten ausgleicht.
Komplexe Ermittlung der Zuweisungen
Die Verteilung der Finanzmittel an die einzelnen Krankenkassen erfolgt in Form von Zuweisungen. Die Krankenkassen erhalten dabei fรผr jeden Versicherten einen Grundbetrag, dessen Hรถhe sich nach den Risikomerkmalen Alter, Geschlecht und Wohnort des Versicherten richtet. Hinzu kommen Zuschlรคge, wenn der Versicherte an bestimmten Vorerkrankungen leidet. Die Zuweisungen bauen dabei auf den durchschnittlichen (Mehr-)kosten einer Erkrankung im Folgejahr auf. Rund die Hรคlfte der Mittel an eine Krankenkasse wird รผber die Grundzuweisung fรผr Alter, Geschlecht und Wohnort verteilt, die andere Hรคlfte รผber Vorerkrankungen anhand von Abrechnungsdaten.
Liese: โDurchgefรผhrt wird der RSA jahresbezogen (immer fรผr ein sogenanntes Ausgleichsjahr) und basiert auf einem regelmรครig รผberarbeiteten Versichertenklassifikationsmodell. Festgelegt wird dieses jeweils zum 30. September des Vorjahres fรผr das folgende Ausgleichsjahrโ. Das Verfahren ist als monatliches Abschlagsverfahren mit Strukturanpassungen und einem abschlieรenden Jahresausgleich ausgestaltet. So werden die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zwar unterjรคhrig an aktuelle Versichertenzahlen der Krankenkassen angepasst, erst im spรคteren Jahresausgleich finden sich Verรคnderungen in der Morbiditรคt wieder. Liese: โKommt eine Krankenkasse mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht aus, kann sie zur Schlieรung der Deckungslรผcke ihr Vermรถgen einsetzen oder muss einen Zusatzbeitrag erheben.โ Auch der Zusatzbeitrag wird dabei 1:1 an den Gesundheitsfonds weitergeleitet. Zurรผck an die Krankenkasse flieรt ein auf das durchschnittliche Einkommen aller Gesetzlich Versicherten bereinigter Betrag. Da die Mitglieder der BKK W&F รผber eine รผberdurchschnittliche Finanzkraft verfรผgen, flieรen auch รผber den Zusatzbeitrag der BKK W&F Mittel an Krankenkassen mit unterdurchschnittlicher Finanzkraft ab.
Fairer Wettbewerb gelingt trotzdem nur bedingt: letzte Reform 2021
Fรผr รคltere und krรคnkere Versicherte erhรคlt eine Krankenkasse mehr Geld als fรผr junge, gesunde. Denn รคltere, krรคnkere Versicherte verursachen im Durchschnitt hรถhere Kosten. Kassen mit รคlteren, krรคnkeren Versicherten hรคtten ohne einen RSA also einen Wettbewerbsnachteil. Die Ausgestaltung des RSA ist trotzdem umstritten, Reformen sollen die Zielgenauigkeit deshalb weiter erhรถhen und Fehlentwicklungen entgegensteuern.
So sind mittlerweile alle Diagnosen Gegenstand des RSA, zuvor waren es bis zu 80 ausgewรคhlte. Damit es bei den gemeldeten Diagnosen nicht zu ungerechtfertigten Fallzahlsteigerungen und damit zu รผberhรถhten RSA-Zuweisungen kommt, trat 2021 eine sogenannte โManipulationsbremseโ in Kraft. Diese sieht vor, dass bei einzelnen Diagnosegruppen mit รผbermรครigen Fallzahlsteigerungen die Zuweisungen nachtrรคglich pauschal auf null Euro festgelegt werden. Mit diesem Werkzeug soll Anreizen zur Diagnoseausweitung und einer damit verbundenen Manipulation des Risikostrukturausgleichs entgegengewirkt werden.
Eine besondere Herausforderung stellt die Vermeidung von Doppel- und Mehrfachzuweisungen dar. Jรถrg Huchthausen, Abteilungsleiter Finanzen: Wer an einer schwereren Form einer Krankheit leidet, soll etwa nicht auch noch zusรคtzlich die Zuschlรคge fรผr leichtere Formen erhalten. Die Diagnosegruppen sind deshalb nach medizinischem Schweregrad und Kostenintensitรคt geordnet. Zuschlรคge gibt es bei Mehrfachzuordnungen dann nur fรผr die Gruppe mit dem hรถchsten Schweregrad. Die Folgen sind teils รผberaus komplexe รber- und Unterordnungsnetzwerke von Diagnosegruppenโ.
Eine weitere Herausforderung: โDurch den Schlussausgleich am Ende des Folgejahres und damit erst ein halbes Jahr nach dem buchhalterischen Abschluss eines Rechnungsjahres kรถnnen sich nachtrรคglich noch deutliche Verschiebungen bei den Einnahmen ergebenโ, so Huchthausen abschlieรend.
Zusรคtzliches Sicherungsnetz โRisikopoolโ – Ausgleichszahlungen fรผr besonders kostenintensive Therapien
รberschreiten die Ausgaben eines Versicherten im RSA-Ausgleichsjahr die Schwelle von 100.000 Euro (wird jรคhrlich dynamisiert), bekommt die betroffene Kasse 80 Prozent des darรผber liegenden Betrags erstattet. Auf diese Weise bleiben ausreichend Anreize fรผr eine wirtschaftliche Versorgung betroffener Versicherter erhalten. Verursacht ein Versicherter zum Beispiel Ausgaben in Hรถhe von 200.000 Euro, bekommt seine Krankenkasse 80.000 Euro aus dem Risikopool ersetzt, 120.000 Euro muss sie selbst tragen. Die Einfรผhrung eines Risikopools stellt kein Novum dar. Obwohl der Risikopool erhebliche Verteilungswirkung entfaltet, wird er im Abschlagsverfahren der Zuweisungen an die Krankenkassen nicht berรผcksichtigt und erst mit dem Schlussausgleich bestimmt. Eine รคhnliche Regelung bestand bereits im Rahmen des sogenannten Alt-RSA vor dem Jahr 2009.